Höhenflug statt Krisenblues. Wie Londons “Square Mile” für die Zukunft plant

Krise! Welche Krise? Während wirtschaftliche und politische Turbulenzen die Schlagzeilen bestimmen und sich Großbritannien mit einem veritablen Clusterfuck nicht zuletzt hausgemachter Probleme konfrontiert sieht, könnte man beim Blick auf die Skyline der Londoner City meinen, man befände sich in einer völlig anderen Realität. In Londons traditionellem Finanzzentrum, der "Square Mile", wird gebaut, was das Zeug hält. Natürlich entwickeln sich Bautätigkeit und Wirtschaftsdynamik nicht immer synchron, vor allem nicht in einer Zeit wie der unseren, in der Immobilien- und Finanzkapitalismus mehr und mehr ihren eigenen Gesetzen zu folgen scheinen. Und doch ist das Bauvolumen erstaunlich und nicht minder erstaunlich ist die beträchtliche Zahl bereits genehmigter oder in Planung befindlicher Projekte.

Londons wohl berühmtester Wolkenkratzer, Norman Fosters 180 Meter hoher Büroturm The Gherkin (zu deutsch: die Gurke), der nach seiner Fertigstellung im Jahr 2003 lange Zeit die Silhouette der City dominierte, ist heute kaum noch auszumachen. Er ist von einer Reihe oft deutlich höherer Wolkenkratzer umzingelt und wird von ihnen in den Schatten gestellt. Eines davon ist das kürzlich fertiggestellte 22 Bishopsgate. Mit 278 Metern ist der von PLP Architecture entworfene Koloss aus Beton, Stahl und Glas derzeit der höchste Büroturm in der Square Mile, wird diesen Titel aber bald an das um die Ecke geplante 1 Undershaft verlieren, das mit 310 Metern auch das bisher höchste Gebäude Londons, The Shard, überragen wird, das sich außerhalb der City befindet. Aktuellen Zahlen zufolge werden derzeit so viele neue Büroflächen gebaut wie lange nicht. Bis Ende 2024 sollen 500.000 Quadratmeter hinzukommen - das entspricht rund 70 Fußballfeldern - und besonders in der Square Mile ist die Nachfrage enorm. Die City of London Corporation, die seit dem Mittelalter als Kommunalbehörde für Londons flächen- und bevölkerungsmäßig kleinsten Stadtbezirk fungiert, ließ kürzlich verlauten, dass sich die Zahl der Bauanträge auf einem Rekordniveau befände. Mehr als 500.000 Quadratmeter zusätzliche Bürofläche seien genehmigt oder kurz vor der Genehmigung und ebenso viel bereits im Bau.

Zurückzuführen ist diese Nachfrage zumindest zum Teil auf die wachsenden Beschäftigungszahlen in der City. Seit 2021 ist diese um 29.000 auf insgesamt 617.000 gestiegen und Schätzungen gehen von einem weiteren Anstieg um 85.000 bis 2040 aus. Standortentscheidungen und Immobilientransaktionen sind mehr als bloße Zahlenjonglage. Neben wirtschaftlichen Berechnungen spielen auch Emotionen und somit Psychologie eine große Rolle. In anderen globalen Finanz- und Dienstleistungszentren herrscht große Verunsicherung angesichts der aktuellen Wirtschaftslage wie auch der Frage, welche langfristigen Folgen der Trend zum Homeoffice und zum mobilen Arbeiten haben wird. Pessimistische Schlagzeilen überschlagen sich - die Financial Times sprach kürzlich zum Beispiel gar von einem "Blutbad" für den gewerblichen Immobilienmarkt in New York angesichts wachsender Leerstände, fallender Immobilienpreise und steigender Bau- und Zinskosten.

In der Londoner City bemüht man sich, eine solche Atmosphäre erst gar nicht entstehen zu lassen. Erst im November veröffentlichte die Kommunalbehörde eine Reihe neuer Hochglanz-Renderings, die eine um elf zusätzliche Hochhäuser ergänzte Skyline im Jahr 2030 zeigen. Die Botschaft: in London herrscht Aufbruchs-, nicht Untergangsstimmung. Die tatsächliche Situation ist freilich komplizierter, als dass sowohl die multiplen Krisen der Gegenwart als auch die Umbrüche in der Arbeitswelt keinesfalls spurlos an der City vorbeigehen. Auch in London stehen viele Büros an vielen Tagen leer oder sind nicht ausgelastet, weil Remote- und Hybrid-Arbeitsmodelle sich etabliert haben. Der Anteil unvermieteter Büroflächen im Innenstadtbereich kratzt an der Zehn-Prozent-Marke, was zwar weniger ist als in New York, aber immer noch besorgniserregend, und der aktuelle Bauboom ist auch darauf zurückzuführen, dass viele bestehende Büros heutigen Ansprüchen und Anforderungen nicht mehr genügen.

Wie die Skyline der Square Mile im Jahr 2030 aussehen soll (© City of London Corporation)

Tatsächlich wecken die Bauaktivitäten der letzten Zeit und die mit ihnen einhergehenden städtebaulichen Veränderungen Assoziationen zu Joseph Schumpeters These der "schöpferischen" oder "kreativen Zerstörung" als wesentlichem Merkmal kapitalistischer Ökonomien. Altes wird beiseite geräumt, nicht nur um in die Höhe zu wachsen, sondern um andere, neuartige Büro- und Arbeitsumgebungen zu schaffen. Immobilienentwickler werben mit flexiblen Grundrissen, Hightech, nachhaltigem Design und einer Atmosphäre, die Mitarbeiter/innen wieder in ihre Büros lockt, um ihre Projekte gewinnbringend auf dem Markt zu platzieren. Und die City of London setzt auf eben diese neuen Büro- und Arbeitswelten, um sich als zentrales Geschäftsviertel zu behaupten. Gleichzeitig hat sich aber auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass es mit neuen "Premium-Büroflächen" - wie es im Immobilien-Sprech heißt – allein nicht getan ist. Wohnungsbau, wie er im Finanzdistrikt von Lower Manhattan oder in La Defense in Paris betrieben wird, um ausgediente Büroflächen einer neuen Nutzung zuzuführen und Büromeilen neues Leben einzuhauchen, ist für die City of London Corporation nach wie vor allenfalls in Ausnahmefällen denkbar. Stattdessen setzt man auf Einzelhandel, Gastronomie, Hotels und Kultur und will die Stadt durch eine umfassende Neugestaltung des Stadtraums attraktiver machen und ihr Profil als "Destination" schärfen. "Placemaking" soll es also richten und die City in einen Ort verwandeln, der nicht mehr nur fast ausschließlich für (Big) Business steht.

Da die City of London Corporation nicht nur als älteste noch bestehende Kommunalverwaltung weltweit gilt, sondern auch eine der wohlhabendsten im Vereinigten Königreich ist, verfügt sie über die nötigen Mittel, um entsprechend zu investieren. Straßen werden zurückgebaut, neue Grün- und Aufenthaltsflächen geschaffen und auch Immobilienentwickler und Unternehmen werden in die Pflicht genommen. Bauen? Ja gerne, aber nur gegen Gegenleistung. Die City gilt gemeinhin als ausgesprochen "investorenfreundlich" – und trägt dieses Etikett mit Stolz. Gleichzeitig scheut sie aber auch nicht davor zurück, Großprojekte an Bedingungen zu knüpfen, also zum Beispiel Hochhausentwickler zu verpflichten, öffentlich zugängliche und in der Regel kostenlose Aussichtsplattformen vorzusehen, Erdgeschossflächen für gemeinnützige oder kulturelle Zwecke zur Verfügung zu stellen oder sich finanziell an der Umgestaltung öffentlicher Räume oder der Renovierung von Baudenkmälern zu beteiligen.

Diese Bemühungen werden wahrgenommen: Das Royal Town Planning Institute, der Berufsverband der britischen Stadtplaner/innen, kürte die City Corporation beispielsweise im November zur Planungsbehörde des Jahres 2023 und erklärte sie zum Vorbild für Städte weltweit. Doch es gibt auch kritische Stimmen. Der Versuch, der sterilen City, einer der Drehscheiben des globalen Turbokapitalismus, ein menschlicheres Gesicht zu geben, sei, um es mit einer in Großbritannien gängigen Redewendung auszudrücken, wie Lippenstift auf ein Schwein zu pinseln, meinen die einen: Schönfärberei. Andere, darunter die Denkmalschutzorganisation Heritage England, nehmen Anstoß am Bau neuer Wolkenkratzer, mit dem Argument, dass sie die historische Kulisse der St. Paul's Cathedral und anderer Wahrzeichen beeinträchtigen. Wiederum andere, die Hochhäuser nicht per se ablehnen, stören sich an deren architektonischer Qualität, oder besser gesagt am vermeintlichen Mangel derselben. Das Etikett "wonky would-be icons" (The Guardian) fasst die Skepsis dieser Kritiker treffend zusammen, obwohl es noch zu den harmloseren Umschreibungen zählt, und immer wieder wird beklagt, London sei im Begriff, zu "Dubai-on-Thames" zu mutieren und sein historisch gewachsenes Erscheinungsbild zu verlieren.

Und es gibt viele, die die Bauwut und den Höhenrausch der City mit Blick auf die Klimakrise kritisieren. Um bis 2040 klimaneutral zu werden, hat die City als erste Planungsbehörde Englands Anfang 2023 damit begonnen, Bauherren dazu anzuhalten, Klimaauswirkungen bereits in einem frühen Stadium ihrer Planung genau zu prüfen und den Abriss existierender Gebäude möglichst zu vermeiden. Eine im Dezember vorgestellte Nachhaltigkeitsrichtlinie geht noch einen Schritt weiter und enthält eine Vielzahl von Bestimmungen mit dem Ziel, einen Paradigmenwechsel bei der Nutzung der Ressource "Bestand" einzuleiten, das zirkuläre Bauen zur Norm zu machen und Bauherren zu bewegen, Klima- und Umweltauswirkungen über den gesamten Lebenszyklus ihrer Gebäude zu reduzieren. So weit, so gut. Allerdings ist der Punkt, an dem ehrgeizige Vorhaben typischerweise scheitern, bekanntlich die Umsetzungsphase, und ob Hochhäuser in der Höhe, die der City für ihre zukünftige Entwicklung vorschwebt, jemals wirklich "nachhaltig" sein können, ist bekanntlich gelinde gesagt umstritten. Hinzu kommt, dass die Richtlinie noch nicht in Kraft ist. Bis es so weit ist, wird noch viel Wasser die Themse hinunterfließen und voraussichtlich werden noch viele Grundsteinlegungen für mal mehr und mal weniger klimafitte Projekte stattfinden, bis sie zur Anwendung kommt. Es sei denn, ja, es sei denn, der Dauer-Krisen-Zustand, in dem sich das Vereinigte Königreich zu befinden scheint, holt die City doch noch ein, der Immobiliensektor stürzt ab und die besagten Grundsteinlegungen fallen ins Wasser.

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Stadtentwicklung in Köln. Scheitern als Kunstform